Autor: Martin Hilbert. 

Eine alte Geschichte

Der Gebrauch und die Bedeutung des Wortes „Wetiko“ bei den Cree, auch „Windigo“ bei den Ojibwa, welche zu der größten Volksgruppe der nordamerikanischen Ureinwohner gehören, zeigen, dass bei diesen Kulturen schon ein Ausdruck bekannt war, um die mörderischen Konfrontationen und Verhaltensweisen durch die einfallenden Europäer in Begriffe zu fassen.

Nach Paul Lévy, Kolumnist für die britischen Tageszeitung „The Guardian“, bezeichnet dieser Begriff einen bösen Geist, welcher in die menschlichen Gedanken einzudringen vermag, einen Virus (lat.: Gift) der Selbstsucht. Als Krankheitserreger zwinge er sein Opfer, seine unersättlichen Bedürfnisse zu stillen, als ob es sonst hungern müsste. Es handele sich bei den Opfern dieses bösen Geistes um Personen, die sich nicht um das Wohlergehen anderer sorgen. Der Mensch werde so des Menschen schlimmster Feind.

Die Cree kannten die dort wohl noch seltene Anomalie, dass nach langen hungrigen Wintern einzelne Menschen eine unstillbare Gier entwickelten, wie Suzanne Tröber in ihrem Artikel „Wetiko – der Virus der Selbstsucht und der Gier“ erläutert: „Das Wohlergehen der anderen war ihm dann egal, er empfand sich in erster Linie nicht mehr als Teil seines Stammes, sondern getrennt. Was er auch immer an Essbarem fand, er nahm es, ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer. Für die Cree war das ein so außergewöhnliches Verhalten, dass sie glaubten, dieser Mensch wäre von einem bösen Geist besessen. Ein Geist, der die Seele krank macht und zwangsläufig in die Trennung führt. Diesen Geist nannten sie Wetiko.“

Man könnte dies auch eine Form des Egoismus nennen, bei der ein natürlicher Sinn für das Gemeinsame, das gesellschaftliche und kollektive Wohlergehen zugunsten einer selbstsüchtigen, gierigen Befriedigung des Egos weicht.

Aus Sicht der Cree ist es dieses Gift, das jene Gier bewirkt, welche den Menschen dazu treibt, die Kraft der Natur, ihre Ressourcen, aber auch die Kraft anderer Menschen rücksichtslos und über jedes verträgliche Maß hinaus an sich zu reißen. Das bedeutendste Merkmal des „Wetiko“ ist die Blindheit, insbesondere die Blindheit gegenüber dem eigenen Zustand.

 

Infektion mit dem bösen Geist aus heutiger Sicht

Wenn man mit dem heutigen Wissen über Traumata und deren Auswirkungen für Menschen auf diese Wahrnehmung der Cree schaut, sind die Ähnlichkeiten und Parallelen zum Stand der Forschung sehr auffällig.

Prof. Dr. Franz Ruppert betreibt ein eigenes Institut für Fort- und Weiterbildung in seiner Praxis für Psychotherapie in München. In seinem 2021 herausgegebenen Buch mit dem Titel „Ich will leben, lieben & geliebt werden“ beschreibt er die wesentlichen Momente in der menschlichen Biographie in denen Traumatisierungen geschehen können und einen Effekt den er „Transgenerationale Wirksamkeit“ nennt, dass also salopp gesagt Traumata quasi vererbt werden können.

Das geschieht nicht immer eins zu eins. Opfer von Verletzungen der Seele und existentieller Bedrohungen begeben sich im weiteren Leben häufig wieder in Verbindung zu weiteren Tätern, um ihr Trauma immer neu zu durchleben. Bekannt wurde so auch in den siebziger Jahren das Phänomen des Stockholm-Syndroms. Das Opfer schützt den Täter, indem es sich mit ihm solidarisiert. Dass dieses Bedürfnis den Täter zu schützen gerade im Verhältnis eines Kindes zu seinen Eltern besonders stark wirkt, hat seine Ursache in seiner existentiellen Abhängigkeit von ihrer Liebe und Anerkennung, die nirgendwo sonst größer ist, als in dieser Beziehung. Und es gibt das Phänomen der Opfer-Täter-Umkehr, wobei erlittene Verletzungen anschließend an anderen verübt werden.

 

Weit verbreitet sind nach Franz Ruppert:

  • das Trauma der Identität, eine Folge des Umstands, von seinen Eltern nicht gewollt zu sein – was für ein Kind existentiell bedrohlich ist (nicht gewollt),
  • das Trauma der Liebe, welches entsteht, wenn ein Ungeborenes oder ein Baby Liebe und Zuwendung nicht erhält und so Lebensgefahr erlebt (nicht geliebt),
  • das Trauma der Sexualität, wenn das Kind nicht geschützt ist vor sexuellem Missbrauch innerhalb und außerhalb von Familien (nicht geschützt),
  • das Trauma der eigenen Täterschaft, wo nach eigener Traumatisierung, innerer Spaltung und Entfremdung von sich selbst die Fähigkeiten des Fühlens verloren gehen und verantwortlich handeln nicht mehr möglich ist.

 

Die darauf folgende innere Spaltung ist eine Notlösung, ein Schutzmechanismus, der in erster Instanz das Überleben ermöglicht. 

Das Kind muss sein zurückgewiesenes Urbedürfnis nach mütterlicher Liebe unterdrücken und verliert so immer mehr den eigenen Zugang zu seiner Lebendigkeit, Liebesfähigkeit und seinem Liebesbedürfnis.

  • Ein Teil bleibt realitätsbezogen und weiß um den Horror der Gleichgültigkeit, Zurückweisung oder Gewalt, ohne ihn jedoch zu fühlen.
  • Ein anderer Teil erlebt die ständigen Wiederholungen von Erfahrungen der Ablehnung und Zurückweisung und fühlt sich diesen ohnmächtig ausgeliefert. Dieser Anteil ist im Schmerz, in der Trauer und in der Angst erstarrt und steckt in diesem Zustand fest.
  • Und eine dritte psychische Struktur verhindert, dass die Verlassenheitsangst und der Schmerz des Ungeliebtseins das eigene Erleben immerzu bewusst prägen. Sie ist weitgehend emotionslos und nur noch in ihrer Gedankenwelt da: „Ich will nicht verletzlich und bedürftig sein!“ „Ich finde diese Gefühlsduselei übertrieben, lächerlich und kindisch!“ „Ich kann meine Gefühle gut im Zaum halten oder ignorieren.“ „Es geht mir gut!“

 

Die traumatisierte Gesellschaft 

Für Mitmenschen, die Gesellschaft, Umwelt und Natur hat dies fatale Auswirkungen. Besonders stark traumatisierte Menschen neigen zu zwanghaften Ersatzhandlungen, um sich von eigenem Schmerz, Angst und überhaupt Fühlen abzulenken. Dies geschieht zum Beispiel durch übermäßiges Streben nach Reichtümern und Macht, welches zwangsläufig immer zu Lasten anderer geschieht und in unserer heutigen Situation wieder erschreckend deutlich sichtbar zu zerstörerischen und mörderischen Ergebnissen führt.

In den bisherigen Strukturen unserer Gesellschaft waren und sind es immer diese besonders Traumatisierten und von „Wetiko“ Infizierten, welche ausgerechnet in Positionen gelangen, in denen ihr Verhalten und ihre Entscheidungen weitreichende und häufig sogar zerstörerische Wirkung für Viele entfalten können.

Die aktuellen Protagonisten in der politischen oder wirtschaftlichen Landschaft brauche ich gar nicht aufzuzählen, da Sie, liebe Leser, sicher eigene Beispiele kennen. Hier erklären sich Unmenschlichkeit, Realitätsferne, Irrationalität und auffällige Gefühllosigkeit von Menschen in Macht oder mit unzählbar viel Reichtum.

Freiheit ist aber so für niemanden möglich, weder für die Täter, noch für die Opfer.

 

Heilung und Freiheit

Die Heilung ist eine ganz-Werdung. Abgespaltene Anteile werden wieder integriert. Dies kann geschehen, indem ein Mensch der traumatisiert wurde seine eigene Biographie in „Selbstbegegnungen“ immer besser kennenlernt, um auf diesem Wege Zugang zum sonst unbewusst arbeitenden psychischen Bindungssystem zu finden. Franz Ruppert hat diese Techniken entwickelt, indem er bei und auch für sich immer wieder selbst innerlich geklärt und weiter integriert hat, wie er in seinem Buch schreibt.

Es erfordert größten Mut, Licht und Aufmerksamkeit auf erschreckende und verletzende Erfahrungen im eigenen Leben zu richten, doch dieser Mut ist wirklich lohnenswert!

Wir können uns mit diesem Licht der Erkenntnis und des Bewusstseins heilen. Hier entsteht der Nährboden für die Freiheit des Menschen und seines Geistes. Und hier kann auch die Heilung der Menschheitsfamilie geschehen.

Wie weiter oben erwähnt, ist ja einer der möglichen Effekte, dass unbewältigte Erlebnisse, in gleicher oder ähnlicher Form wiederholt ins Leben treten und so erneut konfrontiert werden. Dieses Phänomen findet eben auch ganz ähnlich über Generationen hinweg statt – Transgenerationale Wirksamkeit – bis deren Aufarbeitung und Auflösung irgendwann geschieht.

In Anbetracht der Entwicklungen der vergangenen drei Jahre, dürfte vielen Menschen deutlich und sichtbar geworden sein, dass unfassbare Verbrechen der weiteren und zusätzlichen Traumatisierung – insbesondere von Kindern – stattgefunden haben. Um so mehr brauchen wir solche Möglichkeiten und Techniken zur Bewältigung und Transformation zu innerem und äußerem Frieden.

Jeder, der dieser Art Wege der Gesundung beschreitet, ist anschließend besser im Stande, auch seinen Mitmenschen Halt und Orientierung geben zu können. Wer also in diesem Sinne sein eigenes Heil sucht und erarbeitet, handelt auch im Sinne einer kollektiven Heilung, mit Wirkung in seinem Familiensystem und auf gesellschaftlicher Ebene.

 

In diesem Sinne fordere ich Sie auf, mutige Leser:

„Sapere aude!“ Wagen Sie es, sich wahrlich zu fühlen – und so Weisheit zu schöpfen!

„Incipe!“ Beginne! Die Zeit hierfür ist nun reif!

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