Autor: Wolfgang Fallot-Burghardt. 

Die Deutsche Bahn beschäftigt Satiriker in ihren Lokomotiv-Führerständen. Neulich hatte ich wieder einmal mit einem zu tun, aber dazu komme ich gleich. Sie beschäftigt aber auch Vorstände mit Humor wie zum Beispiel den Bahnchef Richard Lutz. Der erreichte im Jahr 2022 seine Bonusziele zu 100 Prozent – jüngere Zahlen sind nicht bekannt –, anders als seine Züge im Fernverkehr, die nur zu 65 Prozent pünktlich ankamen, worunter eine Verspätung von unter sechs Minuten zu verstehen ist. Humor ist, wenn man trotzdem lacht! Die Deutsche Bahn war 2022 das Schlusslicht von dreizehn europäischen Eisenbahnen bei der Pünktlichkeit. Dabei werden Züge, die ganz ausfallen, noch nicht einmal in der Statistik der Deutschen Bahn gewertet. Der Ärger der Reisenden, die dann je nach Taktung eine Verspätung von einer halben, ganzen Stunde oder noch mehr haben, wäre damit eh nicht angemessen abzubilden. Ich habe Verständnis dafür, auch eine Statistik hat ihren Stolz. Eine separate Zählung der ausgefallenen Züge veröffentlicht die Bahn nicht, aus welchen Gründen auch immer. Wahrscheinlich gibt das die Software nicht her.

Der Unmut über die Bahn ergreift immer weitere Teile der Bevölkerung. Ich habe selbst schon eines Samstagsabends, ich schwöre, auf dem Bahnhof Neustadt wartende jugendliche Mitbürger aus Syrien − vielleicht aber auch aus anderen Ländern der Region, ich bin mit den arabischen Dialekten noch nicht so vertraut − , über die Deutsche Bahn lachen und später schimpfen gehört, als ein Zug erst als verspätet, dann als auf einem anderen Gleis einlaufend, und zuletzt als ganz ausfallend angekündigt wurde. Sie sind vermutlich mit fahrenden Zügen sozialisiert worden und haben die deutsche Leidkultur auf den Bahnhöfen noch nicht verinnerlicht. Neulich ging sogar die Durchsage viral, dass die Zugpläne der Bahn de facto nur noch geschätzt sind. Nach bestem Wissen und Gewissen sozusagen. Ich finde es schön, dass man sich dennoch bemüht, den Reisenden diesen Service zu bieten.

Um Bahnchef Richard Lutz besser zu verstehen, muss man wissen, dass Lutz in Landstuhl in der Westpfalz aufgewachsen ist. Wer die dortigen Straßen kennt, zum Beispiel im Stadtteil „Atzel“, der weiß, dass diese in einem derartigen Zustand sind, dass manchmal der Weg das Ziel ist bzw. auch mal zur Endstation wird, zum Beispiel an einer Baustelle, mindestens aber zur Langsamfahrt zwingen. Ankommen als solches wird zwar gerne gesehen, ist aber nur ein Ziel unter vielen. Man muss diese kulturelle Prägung des Herrn Lutz kennen, um die Berechnungsformel der Vorstandsboni zu verstehen, wo sich Pünktlichkeit, Kundenzufriedenheit und wirtschaftlicher Erfolg mit Punkten wie „Frauen in Führung“ und CO₂-Einsparung ausgleichen lassen (laut „Süddeutscher Zeitung“). Vielleicht müssen wir uns als Gesellschaft an die eigene Nase fassen und Bahnchefs besser in die deutsche Mehrheitsgesellschaft integrieren. Man wüsste auch zu gerne, ob Lutz bei seinen Heimatbesuchen für den Weg von und nach Berlin auf die Bahn zurückgreift, und ob die Sekretärin dann sicherheitshalber den Montagvormittag für Termine blockiert.

Die Schweizer Bahner singen schon seit langem das Lied von der Unpünktlichkeit ihrer deutschen Kollegen. Als ich noch beruflich in die Schweiz pendelte und der deutsche ICE in Basel wieder einmal mit fünf Minuten Verspätung einlief, was ja nach deutscher Definition noch gar keine ist, wurde ich im Schweizer Anschlusszug typischerweise mit den Worten begrüßt: „Von Deutschland herrührend haben wir eine Verspätung von sieben Minuten“. Ehre wem Ehre gebührt. Mittlerweile habe ich mir sagen lassen, dass die Schweizer gar nicht mehr auf die Deutschen warten, um sich ihr Schweizer Bahn-Uhrwerk nicht aus dem Takt bringen zu lassen. Ein schwerer Fall von Clash der Kulturen, wie immer, wenn verschiedenartige Welten aufeinandertreffen, hier konkret die Erste und die Zweite.

Der Rhein-Alpen-Korridor, in der Schweiz Neue Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT) genannt, ist ein Dreiländerprojekt zum Ausbau der Nord-Süd-Verbindungsachse von der Nordsee (Rotterdam) nach Italien, auf der etwa 50 Prozent des gesamten Nord-Süd-Frachtverkehrs in Europa bewegt werden. Bekanntlich steht dieser Achse ein Gebirge namens Alpen im Weg, das auch Elon Musk noch nicht abtragen konnte. Aber die Schweizer! Zwei Basistunnel, der Gotthard- und der Lötschberg-Basistunnel, 57 km und 34,6 km lang, wurden 2016 bzw. 2007 fertiggestellt. Übrigens auch mit vielen deutschen Ingenieuren und Technikern. Sie können also, wenn man sie lässt. Basistunnel heißt, dass die Züge auf dem Niveau des Alpenvorlands durch die Alpen fahren können, also praktisch keine Anstiege überwinden müssen. Die Italiener haben die Kapazität ihrer drei Zubringerstrecken in den letzten zwanzig Jahren durch eine Reihe „unspektakulärer, aber wirksamer“ Ausbauten gesteigert, so dass eine Zugfahrt von Zürich nach Mailand heute nur etwas mehr als 3 Stunden dauert.

Dreimal dürfen Sie raten, wo es klemmt. Zwar verpflichtete sich Deutschland 1996 gegenüber der Schweiz zu einem durchgängig viergleisigen Ausbau der Rheintalstrecke zwischen Karlsruhe und Basel als Zufahrt zu den Alpenstrecken. Die Fertigstellung des Gesamtvorhabens verzögerte sich aber immer wieder, aktuell werden die Jahre 2040/2041 genannt, was 30 Jahre später wäre als ursprünglich geplant, unter anderem wegen zahlreicher Widersprüche betroffener Anwohner. Diese Verspätung ist sogar für die Deutsche Bahn Rekord, und das will was heißen. Ich denke, man kann zusammenfassend die These wagen, dass sich in der Deutschen Bahn eine gewisse nennen wir es „Toleranzkultur“ gegenüber Verspätungen aller Art entwickelt hat.

Nach meinen Jahren als Wochenendpendler fahre ich heute nur noch selten mit der Bahn, und dann vor allem, wenn ich mich mit Freunden zum Wandern treffe und dabei ein Glas Wein oder zwei trinken will. Aber selbst für Wenigfahrer hat die Bahn immer eine Überraschung parat. Beim letzten Mal war ich spät dran, genauer gesagt betrat ich den Bahnsteig exakt zur fahrplanmäßigen Abfahrtsminute. Ich drückte den Türöffnerknopf am Waggon, dessen LEDs schon grün zu leuchten begannen, dann aber plötzlich auf rot sprangen. Die Tür blieb zu. Ich blickte nach vorne zum Führerstand in Erwartung der Entriegelung der Tür, aber nichts passierte.

Der Zug stand noch geschätzte zehn Sekunden, eine lange Zeit, in denen der Zugführer sicherlich noch meine Reaktion im Rückspiegel beobachtete − es muss sich schon lohnen − bevor er sich in Bewegung setzte und mich auf dem Bahnsteig zurückließ. Bestimmt ein Lokführer aus der alten Weselsky-Schule, dachte ich mir, ein Veteran der Behördenbahn, der vermutlich bedauerte, dass vor der Abfahrt nicht mehr gepfiffen oder „Zurückbleiben!“ gebrüllt wurde. Oder ein praktizierender Realsatiriker, der den zahlenden Kunden über die Wichtigkeit des Wertes „Pünktlichkeit“ belehren wollte, und darüber, welches Ansehen er bei der Deutschen Bahn genießt, die sich selbst routinemäßig sechs Minuten Spielraum zugesteht … aber lassen wir es. Wieder einmal bestärkt darin, die Dienste der Bahn nur im Notfall, aber auch nur im alleräußersten Notfall in Anspruch zu nehmen, zog ich wieder ab. Aus der Zug- wurde eine Autofahrt und am nächsten Tag eine Fahrradtour zur Abholung des abgestellten Wagens.

Auf meiner Rückfahrt mit der Bahn ging alles glatt, ich war rechtzeitig auf dem Bahnsteig. Eine durchlaufende Meldung auf der Infotafel verkündete eine Verspätung von 30 Minuten des vor meinem eigenen fahrenden Zuges wegen „vorübergehend verringerter Geschwindigkeit“. Das war insofern bemerkenswert, als dieser Zug die 30 Minuten Verspätung auf nur 40 Minuten Fahrt angehäuft hatte. Egal, mein Zug lief pünktlich ein und legte auch pünktlich ab. Nur die Toilette war außer Betrieb − lag es an den fehlenden Installateuren oder an den Putzkräften? − aber damit hatte ich kein Problem, da ich zum Glück noch kontinent bin. Das bringt mich zu dem Klassiker des Bahnwitzes: „Frage an Radio Eriwan: Kann man sein Leben in Deutschland in vollen Zügen genießen? Antwort: Im Prinzip ja, aber bei längeren Fahrtstrecken hängt es von den Toiletten ab.“

Ich könnte noch von anderen sehr viel ärgerlicheren Erlebnissen mit der Deutschen Bahn berichten, aber dann bliebe der Humor auf der Strecke. Lieber Richard Lutz, als treuem Abonnenten dieser Zeitschrift rufe ich Ihnen zu: Bringen Sie Ihre Fahrpläne in Ordnung, reduzieren Sie meinetwegen die Verbindungen um ein Viertel, dann sollten genügend Reserven an Mensch und Material für einen fahrplanmäßigen Betrieb zur Verfügung stehen. Stärken Sie den Servicegedanken nicht nur in Ihren Werbeabteilungen, sondern auch bei Ihren Lokführern, und das Beste, das kostet noch nicht einmal etwas! Wer in letzter Sekunde schnaufend und keuchend auf den Bahnsteig stürmt, ist ein Kunde, der meistens das Geld für sein Ticket schon bezahlt hat und sich sogar für Ihr Unternehmen die Beine aus dem Leib rennt, was Sie kaum jemals bei Ihren Mitarbeitern erleben werden. Für einen solchen Kunden darf ein Zug auch einmal 30 Sekunden später abfahren. Und wir beide wissen ja: das ist noch gar keine Verspätung!

 

Wolfgang Fallot-Burghardt

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